ÜBERSICHT ▼

PRESSEECHO ▼

BNN, 21 Januar 2013

 

Eingesperrt von Vorurteilen

 

Karlsruher Spielgemeinde zeigt "Bilderfallen" in der Michaeliskirche

 

Von unserer Mitarbeiterin Marianne Lother

Stutensee-Blankenloch. "Ich bin weg. So heiße ich auch ab jetzt. Das ist mein Name. Weggegangen, weggedacht. Denn wenn man weg ist, wird man nicht gesehen und kann sagen, was man denkt". Rosalie, die Hauptfigur im neuen Theaterstück "Bilderfallen" der Karlsruher Spielgemeinde, das am Samstagabend in der Blankenlocher Michaeliskirche aufgeführt wurde, ist plötzlich verschwunden und löst damit eine Reihe von Reaktionen aus.

Ort der Handlung ist ein Wirtshaus, in dem sich Rosalie offenbar häufig aufgehalten hat. Jeder der Gäste hat sich ein Bild von ihr gemacht. In gewohnt packender und spannender, aber auch bunter und lebhafter Inszenierung in zwölf Bildern ließ Regisseurin Heide Harmsen ihre Protagonisten zu Wort kommen. Da ist die harte und resolute Wirtin (Gila Borcherding). Sie hat keine gute Meinung von Rosalie, aber auch nicht von Jacob, dem Suchenden (Matthias Kühn): "Wenn einer so aussieht wie du, dann braucht er Geld." Marga, die Schneiderin (Miriam Berger), und Lorena, die Künstlerin (Heike Hendl), sind Rosalie offenbar öfters begegnet. Für Marga ist sie eine Prärieblume, für Lorena eine Katze im Sprung. Weitere Gesprächsteilnehmer sind Patt, der Genießer (Peter Laier), Toni, der Lebenskünstler (Wolfgang Nill), und der Rosenzüchter (Michael Draese).

Dann tritt die Mutter (Rens van Ruiten) auf, die eines Morgens die grausame Entdeckung macht, dass das Bett leer ist, und ihre Tochter nun verzweifelt sucht. Je mehr sie fragt, desto stärker prägen sich ihre Bilder aus, die sie sich von Rosalie gemacht hat: So wird aus dem Mädchen, das auf der einen Seite

BIZARRER MASKENBALL im Wirtshaus: Triumphzug für eine neue Rosensorte namens "Rosalie". Foto: Lother

für eine wilde und freiheitsliebende Kreatur gehalten wird, bei ihr ein schüchternes und ängstliches Kind, das nach Hause gehört, dem sie morgens das Müsli richtet und das rosa Kleid bereitlegt. Das rosa Kleid wird zum Inbegriff des Rollenverständnisses der Mutter von ihrer Tochter.

Aber Rosalies Verhalten ist mehr als ein pubertärer Wunsch, dem Elternhaus zu entfliehen. Es ist der Wunsch, sich selbst zu finden und das eigene Ich zu Wort kommen lassen zu dürfen. Die geniale Inszenierung ließ Rosalie auf der Bühne für die Zuschauer ständig präsent sein, nur für die anderen Figuren nicht. Sie versteckt sich keineswegs, sie wird einfach nicht wahrgenommen.

Mit einer hervorragenden schauspielerischen Leistung spielt Anne Günther Rosalie. Geschickt baut Heide Harmsen auch die gesanglichen Fähigkeiten Anne Günthers mit ein: Rosalie singt hinter einem realen Gitter, eingesperrt hinter Erwartungen, Vorschriften und Vorurteile. Schließlich ist es Jacob, dem sie sich in sinnlicher Weise zeigt. Er muss die Augen schließen

und darf ihr Gesicht ertasten. Vielleicht ist es eine bessere und sensiblere Art der Begegnung, jemanden zu erspüren anstatt ihn zu sehen? Am Ende erkennt die Mutter, dass sie Rosalie keine Entwicklungsmöglichkeit gelassen, sondern ein fertiges Bild von ihr hatte.

Es ist das Besondere an den Theaterstücken der Karlsruher Spielgemeinde, stets gesellschaftlich-zwischenmenschliche Themen aufzugreifen. Die Stücke werden von Schauspielern und Regisseurin selbst erarbeitet und erfüllen einen hohen thematischen und darstellerischen Anspruch. Einmal mehr wurde eine Botschaft zur Orientierung vermittelt: Mütter sollen Kindern das Leben nicht nur schenken, sondern es ihnen auch lassen. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, mit unvoreingenommenem Blick zunächst "durch ein Fernglas" betrachtet und danach "ertastet" zu werden. Sonst wird das Bild zur Falle. Die nächste Aufführung ist am 2. Februar in der Baptistengemeinde, Ohio-Straße 17, Karlsruhe-Nordstadt, um 20 Uhr.