BNN, 14.
November 2016 |
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Willkommen in der
Angst-WG |
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Die Spielgemeinde
Karlsruhe präsentiert ihr neues Stück "Falsche Adresse" |
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Die reinste Horror-WG: Einer macht den ganzen Tag
Musik, einer räumt nie auf, und die Concierge (Ute Langenbein) lauscht
ständig an der Tür. Dann platzt auch noch ein ungehobelter Fremder (Wolfgang Nill) hinein, der tut, was er will. Für zarte Gemüter wie
Hauptmieterin Erdmuthe (Gila Borcherding)
oder Schneiderin Antonia (Regine Baumgartner) Nerventerror pur. Oder sind sie
einfach nur zu festgefahren in ihren alten Gewohnheiten? Versperren ihnen
Ängste den Blick auf neue Erfahrungen? "Der Schatten der Flüchtlingswelle fiel natürlich
auch auf unser Denken", schreibt die Theatergruppe im Programm ihres
neuen Stücks "Falsche Adresse", das sie in der Emmauskirche
uraufführte. Das Stück ist als Allegorie auf die Angst vor dem Fremden und
die Furcht vor der Zukunft zu lesen. "Hier ist kein Zimmer für sie
frei!", donnern die Bewohner dem Fremden entgegen. Die gut gelaunte
Akustikgitarre und das chansoneske Akkordeon stehen
in seltsamem Kontrast zu pantomimischen Darstellungen und ernsten Gesichtern. "Er ist so fern und verloren!", heißt es über
den Fremden. "Nein, ich bin doch da! Und ich bleibe!", entgegnet
dieser. Erdmuthe appelliert an die Menschlichkeit
ihres Mitbewohners, eines gefeuerten Musikprofessors (Michael Draese), den Fremden doch in seinem Zimmer schlafen zu
lassen – "draußen ist es dunkel und kalt!" Doch der Akademiker
interessiert sich nur für seine Kompositionen. Auch die Schneiderin, die
schon all ihre Haare verloren hat, fürchtet um ihre Existenz. "Ich habe
eine Nische entdeckt, ich restauriere ägyptische Gewänder, damit ich nicht
verrecken muss!", schreit sie. Derweil empört sich die Concierge über Speisereste in
der Papiertonne, den ekligen Neuen, der Erdklumpen und Bazillen ins Treppenhaus
schleppt und die Überbelegung mit verrückten Untermietern. Sie droht, dass all
diese "Ratten" ausziehen müssten, falls die Immobilie verkauft wird.
"Wir haben langfristige Verträge!", protestiert der Professor
schwach, immer wieder droht in dieser beklemmenden Atmosphäre die Eskalation.
Das Ensemble findet starke Bilder, etwa jene
alptraumhafte Szene, in der sich die Bewohner verängstigt hinter Wolldecken
verkriechen, bis der Fremde sie ihnen entreißt. "Vergiss deine Angst, mach
was du willst! Kehr' wo du Lust hast und gönn' dir die Sonne!", philosophiert
er. Am Ende klingt das Akkordeon äußerst disharmonisch, aber der erfolglose
Professor gibt sich einen Ruck: "Ab jetzt mache ich, was ich will: Ich werde
nur noch singen!" Nicht umsonst kommt im Programmheft auch Nietzsche zu
Wort: Erst Krise und Verunsicherung reiße die Leute aus ihrem Alltagstrott
und lasse sie neue Pfade beschreiten, womöglich "tanzende Sterne gebären". Nina Setzler |